IPS Montag, 15. November 2010
Die 17-jährige Leila lehnt ihren Kopf gegen die Eingangstür und horcht. "Nichts", sagt sie vorsichtig und dreht sich zu ihrer Mutter Rawda um. Auf der Couch sitzen ihre Geschwister: die 19-jährige Mona, die 15-jährige Nadja und der zehnjährige Khaled, die eigentlich anders heißen. (939 Wörter) - Von Rebecca Murray
Kinder von Irakern haben es in Syrien schwer – Bild: Rebecca Murray/IPS
Ihre wirklichen Namen wollen sie nicht preisgeben - aus gutem
Grund. Gemeinsam mit dem Vater floh die Familie 2006 vor dem
Bürgerkrieg in ihrer Heimat Irak in die syrische Hauptstadt
Damaskus. Inzwischen verstecken sich Rawda und ihre Kinder auch vor
dem ehemaligen Familienoberhaupt.
Seit dem Einmarsch der USA und ihrer Verbündeten in den Irak 2003
suchten nach Angaben des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR)
etwa 260.000 Iraker Zuflucht in Syrien. Allein in diesem Jahr waren
es rund 150.000. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein.
Inoffiziellen Schätzungen zufolge haben sich in den vergangenen
sieben Jahren 1,5 Millionen Iraker in Syrien niedergelassen. Dies
wäre die größte irakische Gemeinde außerhalb des
Heimatlandes.
Syrien hat seit der US-Invasion zwar Visa an Iraker ausgegeben,
doch ist es den Flüchtlingen verboten, im Gastland zu arbeiten.
Rawda und ihre Familie wohnten zunächst in Sayida Zeinab, einer der
chaotischen Satellitenstädte im Umkreis der Hauptstadt Damaskus.
Dort leben zahlreiche irakische Flüchtlinge. Diejenigen, die spät
ankamen, hatten kaum Chancen, über das UNHCR einen neuen Wohnort
zugewiesen zu bekommen.
Nach Flucht aus dem Irak drohte die Zwangsheirat
Unter dem Druck der Armut musste die Familie ihren gesamten Besitz
verkaufen, darunter auch den Goldschmuck der Mädchen. Mutter Rawda,
die im Alter von 13 Jahren zu der Ehe mit einem viel älteren Mann
gezwungen worden war, fand einen illegalen Job in einem
Friseurladen. Doch während sie arbeitete, betrank sich ihr Mann,
ging zu Prostituierten und häufte Schulden an.
Als Rawdas Mann vorübergehend in den Irak zurückkehrte, um
Mobiliar der Familie zu verkaufen, ergriff die Mutter mit ihren
Kindern die Flucht. Zehn Monate lang kamen sie in einem kirchlichen
Heim unter und zogen danach in ein kleines Erdgeschoss-Apartment
fernab der irakischen Enklaven. Dort leben sie nun in völliger
Anonymität, immer in Angst, entdeckt zu werden.
Mona hat ein besonders hartes Los. Mit 19 Jahren ist sie zu alt,
um zur Schule zu gehen, und viel zu ängstlich, um die Wohnung zu
verlassen. Sie fürchtet sich davor, ihrem Vater über den Weg zu
laufen, der sie gegen ihren Willen mit einem reichen Freund
verheiraten wollte.
Firas Majeed, der selbst aus dem Irak geflohen ist, versucht
seinen heimatlosen Landsleuten in Syrien zu helfen. Einmal in der
Woche schaut er bei Rawdas Familie vorbei, wo er mit einem
köstlichen Mahl empfangen wird. Sein Projekt 'Einheimischer ohne
Staat' hat das Ziel, irakischen Kindern Englisch und
Computerkenntnisse zu vermitteln. Majeed organisiert über das
Internet Konferenzen und bringt junge Iraker mit Gleichaltrigen in
den USA in Kontakt. Damit will er die interkulturelle Verständigung
vorantreiben.
Bildung ist ein Schlüsselwort, wenn es darum geht, Kindern von
irakischen Flüchtlingen neue Perspektiven zu schaffen. Das
Weltkinderhilfswerk UNICEF hat nach eigenen Angaben gemeinsam mit
dem Bildungsministerium mehr als 200 Schulen in Syrien wieder
instandgesetzt. In dem Land besteht Schulpflicht für alle unter
15-Jährigen - auch für Iraker.
UNICEF zeigte sich jedoch besorgt darüber, dass immer weniger
irakische Kinder an Schulen in Syrien anmeldet werden. Waren es im
Zeitraum 2008/2009 noch über 33.000, so sank die Zahl in diesem
Jahr auf 24.500. Auch in den UNHCR-Zentren ließen sich immer
weniger Iraker registrieren.
Armut zwingt Kinder zum Schulabbruch
Wie UNICEF-Mitarbeiter Razan Rashidi erklärt, hätten viele Iraker
aus der Mittelschicht nicht mit einem so rasanten sozialen Abstieg
gerechnet. "Da sie hier nicht arbeiten dürfen, sind die Ersparnisse
schnell aufgezehrt." Dass viele irakische Kinder die Schule
abbrächen, sei ein Problem, meinte er. Vor allem die Jungen
arbeiteten oft illegal auf Märkten oder in Textilfabriken.
Der 18-jährige Hamed kommt aus einer gut situierten Familie in
Bagdad. Als die Familie Todesdrohungen erhielt und ein Onkel
getötet wurde, flohen sie vor vier Jahren nach Syrien. Als die
Rücklagen nach einem Jahr zur Neige gingen, entschloss sich der
Vater, trotz aller Gefahren in die Heimat zu fahren, um weiteres
Geld aufzutreiben. Er kam aber nie in Bagdad an. In einer Wüste
nahe der Grenze verloren sich seine Spuren.
Seine Familie in Damaskus sei schwer erschüttert gewesen, sagt
Hamed. Er und seine Mutter arbeiteten als Schneider, um wenigstens
ein kleines Einkommen zu haben. Außerhalb der kleinen Wohnung habe
sich niemand richtig sicher gefühlt, berichtet er.
Hilfsorganisation gab depressivem Jungen neuen Mut
Während seiner Schulzeit wurde der Junge depressiv. "Ich stellte
mir Fragen wie 'was mach ich hier bloß, bin in ich überhaupt noch
am Leben?'", erinnert er sich. Hamed rasierte sich den Schädel kahl
und ritzte sich an Armen und Oberkörper. "Als ich mein eigenes Blut
sah, ging es mir plötzlich besser."
"In den meisten Fällen übertragen die Erwachsenen ihre Ängste auf
die Kinder", sagt Maysoun Alradi, die für die Hilfsorganisation
'Terre des Hommes' (TDH) in Syrien arbeitet. Die Eltern wissen
größtenteils nicht, wie sie mit der neuen Lebenssituation umgehen
sollen. "Die Kinder leiden unter der Angst vor dem Ungewissen",
erklärt die TDH-Projektkoordinatorin Elisabeth Finianos. Viele
hätten die Kriegstraumata bereits bewältigt, nicht aber die
Zukunftssorgen.
Dank der Organisation blickt Hamed mittlerweile zuversichtlich
nach vorn. Er nahm an Theaterkursen von 'Terre Des Hommes' teil und
entdeckte seine Liebe zur Poesie. Nachdem ihm ein Berater eine
Gitarre lieh, lernte er, Flamenco-Rhythmen und arabische Lieder zu
spielen. Der Junge ist nun entschlossen, sich wieder an einer
Schule anzumelden und will später mit Kindern arbeiten. Sollte er
jemals in den Irak zurückkehren, dann nur, um sich für die
Gesellschaft einzusetzen, betonte er. "Im Moment gibt es dort
nichts."
Original veröffentlicht von Inter Press Service. © www.streetnewsservice.org